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Musik

Kirche sein in symphonischer Gemeinschaft

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Kirche sein in symphonischer Gemeinschaft

facundus neues jerusalem thumbEine grosse Stadt ersteht

„Eine grosse Stadt ersteht“ ist durch seine Rezeption in den Gesangbüchern des deutschsprachigen Raums vielleicht Silja Walters bekannteste poetische Arbeit für den liturgischen Gebrauch. Das Lied ist eng verbunden mit dem kirchlichen Aufbruch des letzten Konzils. Ist es mehr als eine - vielleicht melancholische - Reminiszenz an eine Phase der jüngeren Kirchengeschichte, die unvermeidlich jeden Tag mehr in Vergangenheit versinkt?

1965: Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils

Auf dem Konzil hatte die Kirche ihr theologisches Selbstverständnis formuliert, intensiv und ausführlich wie nie zuvor. Eine Selbstentdeckung geschah, die in vieler Hinsicht einer Neuentdeckung gleichkam, genährt aus biblischen und patristischen Quellen, deren Bedeutung lange übersehen worden war. Lange hatte sich das im Raum der Theologie, aber auch in einer neuen Erfahrung von Kirche vorbereitet. Das Konzil brachte die Ernte ein: Die Kirche war in gewisser Hinsicht das Thema des Konzils gewesen. Die Neuentdeckung war bildkräftig: Volk Gottes auf dem Weg wurde zur Leitmetapher, die sich einprägte. Und man empfand das Ereignis als pfingstlich, als Aufbruch in einen neuen Frühling der Kirche. 1965 ist Silja Walters Lied „Eine grosse Stadt ersteht“ datiert. Ohne diesen Zeitkontext wird man es kaum verstehen – „Eine grosse Stadt ersteht“: Ist das jetzt nicht ganz neu spürbar geworden, sind nicht grosse Dinge im Werden? Fast ein wenig euphorisch tönt das.

2019: Ernüchterung

Wir sind gründlich ernüchtert und schauen doch wohl mehr in eine Trümmerlandschaft als auf eine grosse Stadt im Erstehen. Wüsten scheinen sich auszubreiten. Kein kirchlicher Frühling hat sich eingestellt. Permanente Schrumpfung ist zur Dauererfahrung von Kirchenmenschen geworden. Zuletzt hat die dritte Phase des Missbrauchsskandals (nach 2002 und 2010) die Realität hinter den Fassaden kirchlichen Selbstbetrugs brutal sichtbar werden lassen. Ist Silja Walters Lied also ein zeitgebundenes Dokument der Konzilseuphorie?
Meine Antwort sei schon hier als These formuliert: So sehr der Zeitkontext prägt, so sehr überragt die biblisch gewonnene Bildwelt des Liedes und der damit verbundene theologische Gehalt die blosse Zeitstimmung. So wenig das Kirchenverständnis des zweiten Vaticanums seine Gültigkeit verloren hat, obwohl es natürlich immer wieder neu zu befragen ist, so wenig auch dieses Lied. Eher legt das Abfallen der Euphorie den wirklichen Gehalt frei. Es lohnt sich also noch einmal gründlich hinzuschauen.

Das Lied (KG 505, GL 479)

Eine große Stadt ersteht,
die vom Himmel niedergeht
in die Erdenzeit.
Mond und Sonne braucht sie nicht;
Jesus Christus ist ihr Licht,
Ihre Herrlichkeit.

Lass uns durch dein Tor herein
und in dir geboren sein,
dass uns Gott erkennt.
Lass herein, die draußen sind;
Gott heißt Tochter, Sohn und Kind (urspr.: jeden Sohn und Kind),
der dich Mutter nennt.

Dank dem Vater, der uns zieht
durch den Geist, der in dir glüht;
Dank sei Jesus Christ,
der durch seines Kreuzes Kraft
uns zum Gottesvolk erschafft,
das unsterblich ist.

Lumen Gentium

Tatsächlich steht das Lied in seinen Motiven diskret, aber deutlich, in Verbindung zur dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche. Diese trägt den programmatischen Titel „Lumen gentium“, „Licht der Völker“. Nimmt man nur diesen Titel zur Kenntnis, in Verbindung mit der Zuordnung des Dokuments zur Kirche, dann könnte man darauf kommen, dass dieses „Licht der Völker“ wohl die Kirche sein muss (etwa im Sinne der Metaphorik der „Stadt auf dem Berge“). Die Pointe liegt aber gerade darin, dass der erste Satz, dem der Titel entnommen ist, dann fortsetzt: „Lumen gentium cum sit Christus ...“ „Christus ist das Licht der Völker ...“.
Eingebettet in einen biblischen Bildzusammenhang, ist in Silja Walters Lied Jesus Christus Licht und Herrlichkeit der grossen Stadt. So wird die programmatisch-pointierte Wendung des Anfangs der Kirchenkonstitution biblisch rekontextualisiert und aufgenommen. Eine zweite Verbindung liegt selbstverständlich in der dritten Strophe: Das Erlösungswerk Christi schafft das eschatologische Gottesvolk. „Volk Gottes“ ist bekanntlich die wichtigste Beschreibung der Kirche in der Kirchentheologie des Konzils – ein damals als neu empfundener Akzent, weil in der ersten Phase der Neubesinnung auf die Kirche das paulinische Bild des „Leibes Christi“ im Vordergrund gestanden hatte.

Diese theologischen Bezüge auf die Kirchenkonstitution, die vermutlich bewusst gesetzt sind, werden aber nun nicht etwa einfach „illustriert“. Vielmehr sind sie aufgenommen und eingebettet in einen ganz ursprünglichen, biblisch gesättigten poetischen Zusammenhang, der zwar von vornherein auf Vertonbarkeit als Lied angelegt ist, aber eigene dichterische und theologische Qualität aufweist.
Sichern wir in einem ersten Schritt das Geflecht der Bildmotive und der damit verbundenen theologischen Konnotationen. In einem zweiten Schritt gilt es die biblischen Bezüge zu klären – es ist nicht nur ein einziger, sondern neben dem Grundbezug werden gleich mehrere weitere angespielt. Es entsteht zwischen ihnen ein Geflecht (Intertextualität). Schliesslich soll eine Interpretation des ganzen Lieds versucht werden.

Motiv- und Bildwelt

Grundbild ist natürlich die vom Himmel niedergehende grosse Stadt. Ihr Licht ist Christus. In der zweiten Strophe wird die Stadt bittend durch ein Kollektiv („Lass uns“) angeredet. Gegenstand der Bitte ist der Einlass durch das Tor der Stadt. Denn denjenigen, die in die Stadt eingelassen werden, geschieht Geburt: Die Bittenden bitten um das Geborensein in der Stadt – ein Paradox! Mit dem Geborenwerden ist verbunden, durch Gott erkannt zu werden. Die Bitte um Einlass wird nun variiert wiederholt. Wer aber die Stadt Mutter nennt, wird von Gott – so die nicht gegenderte ursprüngliche Fassung – Sohn und Kind genannt. Offensichtlich werden auch hier die Motive der zweiten Zeile (Geburt, Erkanntwerden durch Gott) variiert und weitergeführt. Die letzte, trinitarisch-doxologische Strophe lässt das Bild der Stadt durchsichtig werden auf das Heilswirken des dreifaltigen Gottes. Dennoch bleibt die Stadt die Angeredete („der in dir glüht“). Die Doxologie wird als Dank, „eucharistisch“ wenn man so will, formuliert, zunächst gemeinsam an Vater und Geist. Dann an den Sohn. Der Vater „zieht“ „uns“ durch den Geist. Und aus der Kraft des Kreuzestodes entsteht in einem schöpferischen Akt das österliche („unsterblich“) Gottesvolk. Obwohl das Lied durchsichtig wirkt, erweist sich also bei genauerem Hinsehen das Bild- und Motivgeflecht als dicht und gewichtig: Das Grundbild wird angereichert durch das Geburts-, Mutterschafts-, Kindschaftsmotiv und dann trinitarisch vertieft.

Die neue Stadt

Drei biblische Hauptreferenzen sind auszumachen; das Grundbild entstammt den Schlusskapiteln der Offenbarung des Johannes, genauer 21,1-3:
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.“
Es wird ergänzt durch Offenbarung 21,22-27:
„Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. Die Völker werden in diesem Licht einhergehen und die Könige der Erde werden ihre Pracht in die Stadt bringen. Ihre Tore werden den ganzen Tag nicht geschlossen – Nacht wird es dort nicht mehr geben. Und man wird die Pracht und die Kostbarkeiten der Völker in die Stadt bringen. Aber nichts Unreines wird hineinkommen, keiner, der Gräuel verübt und lügt. Nur die im Lebensbuch des Lammes eingetragen sind, werden eingelassen.“

Ich habe jeweils auch den weiteren Kontext angeführt, weil Silja Walters poetische Paraphrase zwar im ersten Augenblick nur das Grundbild – die Stadt und ihr Licht – aus den Texten der Johannesoffenbarung zu focussieren scheint, dann aber, indem sie in der zweiten Strophe virtuos biblische (und auch patristische, wie wir sehen werden) Intertextualität herstellt, der Zusammenhang indirekt, über andere biblische Texte vermittelt, dennoch gewichtig aufscheint. Diese intertextuellen Referenzen, die zunächst das Grundbild fortspinnen, sind dem Propheten Jesaja und den Psalmen entnommen.

In Jesaja 26,1-2 heisst es: „An jenem Tag wird dieses Lied im Land Juda gesungen: Wir haben eine starke Stadt. Zum Heil setzt er Mauern und Wall. Öffnet die Tore, damit eine gerechte Nation einzieht, die Treue bewahrt.“ Von hier stammt also das Tor- und Einlassmotiv der zweiten Strophe!

Die Stadt als Geburtsort

Psalm 87 aber ist das Geburtsmotiv entnommen: „Ein Psalm der Korachiter. Ein Lied. Der HERR liebt seine Gründung auf heiligen Bergen, die Tore Zions mehr als alle Stätten Jakobs. Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes: [Sela] Ich zähle Rahab und Babel zu denen, die mich erkennen, auch das Philisterland, Tyrus und Kusch: Diese sind dort geboren. Ja, über Zion wird man sagen: Ein jeder ist in ihr geboren. Er, der Höchste, gibt ihr Bestand! Der HERR zählt und verzeichnet die Völker: Diese sind dort geboren. [Sela] Und sie werden beim Reigentanz singen: All meine Quellen entspringen in dir.“

Die Stadt als Mutter

Durch die intertextuelle Verknüpfung und die poetische Paraphrase dieser drei Hauptreferenzen entstehen die dynamischen Momente des Grundbildes vor unserem inneren Auge: Die von Christus erleuchtete, herabkommende Stadt; die, die durch das Tor der Stadt Einlass erbitten, um dort, durch und in der Stadt, neue Geburt zu erfahren, eine Geburt, die die Stadt zur Mutter der Kinder Gottes macht. Das Geburtsmotiv wird also zum Mutterschaftsmotiv fortgesponnen – mit entsprechenden biblisch-patristischen Bezügen: „Aber das Jerusalem oben ist frei; und dieses ist unsre Mutter.“ (Galater 4, 26). Und: „Gott kann der nicht mehr zum Vater haben, der die Kirche nicht zu Mutter hat.“ (Cyprian, De unitate 6).

Gezogenwerden

Schliesslich aber wird dieses dynamische Grundbild in der abschliessenden Strophe, wie angedeutet, trinitarisch-heilsökonomisch durchsichtig gemacht. Hier sind die biblischen Referenzen vor allem vom Johannesevangelium inspiriert; das Stichwort, das den Grundzusammenhang evoziert, ist das „Ziehen“ des Vaters: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht“ (Johannes 6,44). Dem entspricht das „Ziehen“ des Sohnes vom Kreuz her: „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ (Johannes 12,32). Ich denke, es ist offensichtlich, dass die Schlusszeile in diesem Licht gelesen werden muss, auch wenn das Stichwort des „Ziehens“ nicht explizit wiederholt wird: Konstitution des Gottesvolkes geschieht vom Kreuz her!

Kirche im Ereignis ihres Werdens

Versuchen wir nun auf dieser Basis – Klärung der Motive und der biblischen Intertextualität – eine Interpretation. Zunächst möchte ich drei Momente des Textes nennen, die in ihrem Zusammenspiel seinen Grundklang ergeben.
1. Silja Walters Lied redet nicht von einem Zustand oder einem fixierten Ergebnis, sondern von einem Ereignis und einem Werden im eschatologischen Horizont. Also handelt sich auch nicht bloss um einen eschatologischen Ausblick, was die Bildfindung aus dem Text der Johannesoffenbarung ja nahelegen könnte, sondern vielmehr um ein eschatologisch bestimmtes Geschehen hier und jetzt. Es geht um das Werden von Kirche, es geht um das Volk Gottes als Ereignis, es geht um „Ekklesiogenesis“.
2. Kirchwerdung bedeutet zugleich Werden, Geburt der christlichen Existenz: In der Gemeinschaft der Kirche geboren zu werden, bedeutet als Kind, Tochter, Sohn Gottes geboren zu werden. Heisst: Wiedergeburt als Christin und Christ gibt es nicht für isolierte Individuen, sondern geschieht notwendig im Kontext kirchlicher Gemeinschaft. Gemeinschaft und christliche Persönlichkeit sind strikt miteinander gegeben (so schon Romano Guardini).
3. Letztlich gründet das Werden der Kirche ganz und gar im Wirken des dreifaltigen Gottes. Er zieht Menschen in seine Gemeinschaft (unter Einbezug ihrer Freiheitsgeschichte selbstredend). Der Geist als transzendenter Glühkern der Kirche ist der bewegende Grund, der die Sehnsucht der Menschen erfasst und sie zu und in diese Gemeinschaft führt. Ziel der Sehnsucht und Mitte der Gemeinschaft ist aber der gekreuzigte und erhöhte Jesus, der alles zu sich zieht und so ein Volk schafft, dem sein österliches Leben mitgeteilt wird. Hinter dieser doppelten Bewegung aber – aus der Tiefe der Sehnsucht und vom Kreuz her – steht der Vater, der alles trägt, Urgrund und letztes Ziel.

Jenseits des Triumphalismus

In Gott fundierte Ekklesiogenesis, Kirchwerdung also! Schon die erste Zeile sagt es: Die Stadt entsteht, sie ist nicht schon einfach da, sie wird in jedem Augenblick, aus Gottes Ewigkeit kommt sie her und geht ein in die Erdenzeit, „zeitigt“ sich dort. Das Bild der Stadt ist dabei verdichtetes Bild der neuen Schöpfung (für die Antike ist die Stadt Inbegriff des wohlgeordneten Kosmos!), die in unmittelbarer Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer steht: vom Licht des Lammes direkt erleuchtet. Sie ist das Ziel der Menschen, die andauernd durch ihre Tore eingehen bis zu ihrer Vollendung, um dort in Gemeinschaft als Töchter und Söhne Gottes wiedergeboren zu werden.
So ist Silja Walters Grundbild ein dynamisches Bild, ein Bild zweier Bewegungen, von Gott her und von den Menschen her, die dauernd geschehen, und durch die Kirche wird. Hier gibt es keinen statischen Besitz, hier gibt es keine Exklusivität derer, die drinnen sind gegenüber denen draussen, wohl aber eine beständige Bewegung von draussen nach drinnen in die Mitte des neugeborenen Lebens als Tochter und Sohn Gottes – getragen von der Gnade Christi und der Gnade des Heiligen Geistes.

Kirche entsteht neu

Einem solchen Kirchenbild ist jede Selbstfixierung der Kirche und jeder Triumphalismus fremd. Zu rühmen ist hier allein der dreifaltige Gott. Deshalb zeigt sich Silja Walters Liedtext auch jenseits der Konzilseuphorie als tragfähig. Wir dürfen in Gewissheit hoffen: Gott wirkt auch heute. Durch alle Abbrüche und Trümmerlandschaften zieht er Menschen zu sich – auch heute wird Kirche, ersteht die grosse Stadt, vielleicht paradox gerade in den Wüsten und Trümmerlandschaften und durch die Abbrüche hindurch.
Werden wir also achtsam und sensibel für das staunenswerte Wirken Gottes auch heute, stellen wir uns dem zur Verfügung: „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht? Ja, ich lege einen Weg an durch die Wüste und Flüsse durchs Ödland. Die wilden Tiere werden mich preisen, die Schakale und Strauße, denn ich lasse in der Wüste Wasser fließen und Flüsse im Ödland, um mein Volk, mein erwähltes, zu tränken. Das Volk, das ich mir geformt habe, wird meinen Ruhm verkünden.“ (Jes 43,19-21). Gott schafft überraschend und staunenswert einen Weg in der Wüste – ein Weg, der auch in der Bildwelt des Jesajabuches zur Stadt seiner Gegenwart führt, heute immer noch und immer wieder neu – und wie in Silja Walters Lied.

Martin Brüske, 21.2.2019

Zum Anhören: Gotteslobvideo (GL 479, 1. Strophe) Es singt die Jugendkantorei St. Georg der katholischen Kirche St. Georg in Bensheim.

Dieser Beitrag wurde unterstützt durch Mittel des Freundeskreises Liturgisches Institut.