Vigil thumbVigilien

Jemand muss zu Hause sein, Herr, wenn du kommst.

Schlaflosigkeit, Schichtarbeit, die Angst, etwas zu verpassen, Fun und Unterhaltung - es gibt viele Gründe wach zu sein oder wach zu bleiben. Ein Gebet von Silja Walter umschreibt in poetischer Weise, warum sie wacht und bleibt.

Aufgeweckt und wachsam

Christen warten darauf, dass "Jesus, der Herr, sich vom Himmel her offenbart" (2 Thessalonicherbrief 1,7). Diese Erwartung ist wohl im christlichen Alltagsbewusstsein eingeschlafen. Dennoch: Jesus fordert auf, allezeit zu wachen und zu beten, um bereit zu sein, wenn er wiederkommt (vgl. Lukas 21,36). Ein kurzer Gebetsruf der ersten Christen in aramäische Sprache lautet deshalb auch: "Maranatha – unser Herr, komm!" (1 Korintherbrief 16,22)

Niemand weiss jedoch, wann der Herr kommen wird. "Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht" (1 Thessalonicherbrief 5,2; vgl. 2 Petrusbrief 3,10). Darum bleibt der treue und kluge Knecht wach und besorgt das Haus in rechter Weise (vgl. Lukas 12,42-46).

Als Nonne in ihrer Zelle versieht Silja Walter dieses Wächteramt, um der schlafenden Welt den kommenden Herrn anzukünden und ihm Einlass zu gewähren. Das Kloster am Rande der Stadt, der Stadt Zürich im Kloster Fahr, wird so zum Bild für eine christliche Grundhaltung: die Wachsamkeit. Der lebendige und aufgeweckte Christ will Durchlass sein, Tor für den kommenden Herrn: "Herr, durch meine Zellentüre kommst du in die Welt und durch mein Herz zum Menschen." Der Herr kommt nicht "irgendwann später" – er kann zu jeder Zeit, er kann "jetzt" kommen. Die Zeit des Herrn ist immer "heute".

Adventlich und österlich

Die Vigil ist fast zu einer rein klösterlichen Gebetszeiten geworden, obwohl zu ihren Ursprüngen die Osternachtfeier gehört. Die Osternacht ist die Mutter aller Vigilien. In ihr wird Christus als das Licht der Welt begrüsst und gefeiert. Durch ihn hat Gott die Menschen aus der Finsternis von Tod und Leid, von Gottferne und menschlicher Isolation in das Licht seiner Gegenwart geführt.

Die Symbolik von Finsternis und Licht spielt eine grosse Rolle und hilft den Sinn der Vigilfeier zu verstehen. Wie die aufgehende Sonne das Dunkel der Nacht überwindet, so erscheint Christus als der Sieger über alle Finsternis in der menschlichen Existenz. Der Christ will aber die Ankunft seines Herrn nicht verschlafen. "Deshalb heisst es: Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten und Christus wird dein Licht sein" (Epheserbrief 5,14).

Diese Symbolik gehört auch zur Advents- und Weihnachtszeit. Die Rorate-Gottesdienste und die weihnachtliche Mitternachtsmesse sind ebenfalls Feiern, in denen gewacht wird, und die den Umschwung von der Finsternis zum Licht erwarten. Ostern wie Advent sind von dieser Symbolik geprägt. Der Herr, dessen Wiederkommen erwartet wird, ist der vom Tode erstandene Jesus Christus.

Kämpferisch, schöpferisch, bräutlich

Die Bibel benutzt zur Beschreibung des österlichen Geschehens auch kriegerische Bilder. Der Tod muss als Feind des Lebens endgültig besiegt und vernichtet werden. So haftet der Vigil etwas Kämpferisches an. Im Gedicht von Silja Walter ist es das Aushalten der Gottferne, des Schweigens Gottes, das diesen Kampf ausmacht. Die Vigilfeier hat etwas Trotziges. Sie widersteht der Dunkelheit von Leid und Tod. Sie hofft gegen alle Hoffnungslosigkeit und glaubt trotz aller Zweifel. Sie erhebt ihre Stimme, damit Gott nicht vergessen wird – aber auch die Not der Menschen vor Gott wach gehalten wird.

Positiv gewendet bedeutet dies: Kampf für das Leben. Wie der Morgen ein neues Erwachen der Natur bringt, so wacht der Christ dem Schöpfer entgegen, der in Christi Auferstehung das Leben neu geschaffen hat. Er hat die Welt gemacht und erhält sie jeden Augenblick am Leben. Dies ist das göttliche, das grosse und herrliche Werk, von dem Silja Walter spricht. In der Vigil wacht der Christ dem neuen Schöpfungsmorgen entgegen, dem "neuen Himmel und der neuen Erde" (vgl. Offenbarung 21,1).

"Und jemand muss singen, Herr, wenn du kommst, das ist unser Dienst." Das Singen ist nicht nur Verkündigung, es ist auch Ausdruck der Liebe und Freude. Es ist der Gesang der Brautjungfern, welche den Bräutigam begrüssen. Im Gleichnis von den zehn Jungfrauen hat Jesus das Bild der Hochzeit verwendet, um über das kommende Reich Gottes zu sprechen. "Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen!" (Matthäus 25,6).

Vigil und Lesehore

Benedikt von Nursia

Alte klösterliche Lebensordnungen kannten das mitternächtliche Gebet in Übereinstimmung mit Psalm 119,62: "Um Mitternacht stehe ich auf, dich zu preisen". Allerdings setzte schon Benedikt von Nursia in seiner Ordensregel (6. Jhdt.) die Vigil "aus vernünftiger Überlegung" am frühen Morgen an, damit alle "ausgeruht aufstehen" (Regula Benedicti 8,1). Es gibt heute kaum noch klösterliche Gemeinschaften, welche die Vigil in der tiefen Nacht feiern.

Die liturgische Erneuerung in der Folge des 2. Vatikanischen Konzils gab die Vigil zugunsten der flexibleren sogenannten Lesehore auf. Damit wollte man den modernen Lebensbedingungen entgegenkommen. Die Lesehore kann "zu jeder beliebigen Tageszeit gehalten werden" (Allgemeine Einführung in das Stundenbuch Nr. 59). Sie ist weniger von der Psalmodie geprägt; vielmehr steht nun die Schriftlesung im Vordergrund. Durch die Neuordnung ist der Lesehore allerdings viel an Spannung verloren gegangen, welche einer nächtlichen Vigilfeier innewohnt.

Nacht der Offenbarung in nichtchristlichen Religionen

Auch andere religiöse Traditionen kennen Nachtwachen und führen sie auf prägende Ereignisse ihrer Entstehung zurück. Muslime erinnern sich in der „Nacht der Bestimmung" (laylat al-qadr) am 27. Tag des Fastenmonats Ramadan an die Herabsendung der koranischen Offenbarung. Sie verbindet die Gläubigen in besonderer Weise mit Gott und seiner Bestimmungsmacht. „Voller Frieden ist sie bis zum Aufgang der Morgenröte" (Sure 97:5). Diese Nacht gilt als Zeit besonderer Gnade.
Wie Mohammed die göttliche Offenbarung in einer Nacht zuteil wurde, so fand Buddha in einer Nacht zur erlösenden Erkenntnis und wurde zum „bodhi", zum „Erwachten".

Neuaufbrüche

Nachtwache nach dem 11. SeptemberFür den modernen Menschen hat sich das Verhältnis von Tag und Nacht gewandelt. Er geht nicht wie der antike Mensch mit den Hühnern ins Bett und steht beim ersten Hahnenschrei wieder auf. Tag und Nacht vermischen sich, Licht und Dunkel sind keine natürlichen Phänomene mehr. Gerade junge Menschen haben das Besondere einer religiösen Nachtwache für sich wieder neu entdeckt. Bei den Weltjugendtagen und den Anlässen, die aus diesem Impuls erwachsen sind, werden gerne Vigilien gehalten. Sie sind Zeiten der Stille, Zeiten des Horchens auf Gott und sein Wort, Zeiten des intensiven, meditierenden Gebetes. Sie machen erfahrbar, was es bedeutet, bei sich selber "zuhause" zu sein, nicht "draussen herumzulaufen". Denn: "Jemand muss zuhause sein, Herr, wenn du kommst. Jemand muss dich erwarten."

P. Gregor Brazerol OSB

Stichwort

  • meditativer nächtlicher Gottesdienst aufgrund der Erwartung des wiederkehrenden Herrn
  • Vigil von lateinisch vigilare = wachen, wach bleiben, (eine Zeit) durchwachen
  • Auch: Matutin von lateinisch matutinus = morgendlich, daher das deutsche Wort Mette wie z. B. Weihnachtsmette
  • Struktur der monastischen Vigilien: zwei oder drei Nokturnen (= Nachtwachen) mit oft 12 Psalmen - so noch in der Kollage Vigil von P. Bannos - und Lesungen aus der Hl. Schrift und den Kirchenvätern

Geistlicher Impuls

Gebet des Klosters
am Rande der Stadt

Jemand muss zuhause sein,
Herr,
wenn du kommst.
Jemand muss dich erwarten
unten am Fluss
vor der Stadt.

Jemand muss nach dir Ausschau
halten
Tag und Nacht.

Wer weiss denn, wann du kommst.

Herr,
jemand muss dich kommen sehen
durch die Gitter
seines Hauses,
durch die Gitter.

Durch die Gitter deiner Worte,
deiner Werke,
durch die Gitter der Geschichte,
durch die Gitter des Geschehens
immer jetzt und heute
in der Welt.

Jemand muss wachen
unten an der Brücke,
um deine Ankunft zu melden,
Herr,
du kommst ja doch in der Nacht
wie ein Dieb.

Wachen ist unser Dienst,
wachen.
Auch für die Welt.
Sie ist oft so leichtsinnig,
läuft draussen herum,
und nachts ist sie auch nicht
zuhause.

Denkt sie daran,
dass du kommst?
Dass du ihr Herr bist
und sicher kommst?

Jemand muss es glauben.

Zuhause sein um Mitternacht,
um dir das Tor zu öffnen
und dich einzulassen,
wo du immer kommst.

Herr,
durch meine Zellentüre
kommst du in die Welt
und durch mein Herz
zum Menschen.
Was glaubst du, taten wir sonst?

Wir bleiben, weil wir glauben.
Zu glauben und zu bleiben
sind wir da, -
draussen
am Rand der Stadt.

Herr.
Und jemand muss dich aushalten,
dich ertragen, ohne davonzulaufen.
Deine Abwesenheit aushalten, ohne an deinem Kommen
zu zweifeln.
Dein Schweigen aushalten
und trotzdem singen.
Dein Leiden, deinen Tod aushalten
und daraus leben.
Das muss immer jemand tun
mit allen andern
und für sie.

Und jemand muss singen,
Herr,
wenn du kommst,
das ist unser Dienst.

Dich kommen sehen und singen.
Weil du Gott bist.
Weil du die grossen Werke tust, die keiner wirkt als du.
Und weil du herrlich bist
und wunderbar wie keiner.

Komm, Herr!
Hinter unseren Mauern
unten am Fluss
wartet die Stadt
auf dich.
Amen

Silja Walter (1919-2011)

Facts

Aus der Allgemeinen Einführung in das Stundenbuch:

Nr. 70. ... "Die Vigil dieser Nacht (= Osternacht)", sagt der heilige Augustinus, "ist so bedeutsam, dass sie diesen auch den anderen Vigilien gemeinsamen Namen wie einen Eigennamen an sich gezogen hat." Wachend verbringen wir jene Nacht, da der Herr auferstand und jenes Leben in seinem Fleische für uns begann, in dem es weder Tod noch Schlaf gibt ... Der Auferstandene, dem wir in dieser Nacht, ein wenig länger wachend, unser Preislied singen, wird uns bei sich Leben und Herrschaft ohne Ende gewähren."

Nr. 72. Die Väter und die geistlichen Schriftsteller haben die Gläubigen, besonders die ein kontemplatives Leben führen, oft zum nächtlichen Gebet ermuntert. Darin findet die Erwartung des wiederkehrenden Herrn Ausdruck und Ansporn : "Mitten in der Nacht wurde laut gerufen Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen!" (Mt 25, 6.) "Wacht aber! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob abends oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen" (Mk 13, 35 bis 36). Darum verdienen alle Anerkennung, die am Charakter der Lesehore als nächtliches Gebet festhalten.

Ablauf

Grundschema:

Eröffnungsvers und Hymnus

  1. Nokturn: Psalmen - Lesung(en)
  2. Nokturn: Psalmen - Lesung(en)
  3. Nokturn (Feste, Sonntag): alttestamentliche Lesung - Te Deum - Evangelium - Schlussgebet

Links

Jugendvigil in Disentis

Ordensregel des Hl. Benedikt