Rollstuhl pixelio.de thumbLeben mit Behinderungen

Vor Gott ist niemand behindert – oder alle sind es

Beim Wort „behindert" denken wir normalerweise an Menschen mit einer besonderen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung. Behindert, in ihrem Leben eingeschränkt, sind auch andere Menschen.

In den Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist etwa der Geschäftsmann, der nach seiner Insolvenz die Öffentlichkeit meidet. Oder die geschiedene Frau, die mit ihren Kindern finanziell kaum über die Runden kommt, die verbitterte vereinsamte Seniorin, die sich über nichts mehr freuen kann, der Rentner, der sich auf den Ruhestand und die damit verbundene Freiheit gefreut hat und plötzlich gezwungen ist, seine kranke Frau zu pflegen, und jener, der täglich neu einen Kampf gegen seinen Hang zum Alkohol führt, ....

Es waren neben den starken und handlungswilligen – und gelegentlich auch versagenden – Aposteln die Mühseligen und Beladenen, die Schwachen und Kranken, die Gescheiterten, die Schuldig-Gewordenen, die „Armen im Geiste", die Jesu Nähe suchten. Je weiter unser Blick wird, desto mehr finden wir uns selbst in der Reihe.

Ein Ort der Begegnung

Es tut der Kirche gut, wenn sie sich als ein Ort zeigt, an dem wir – alle – uns mit unseren je eigenen Behinderungen angenommen und aufgehoben wissen dürfen. Dabei kommt der Liturgie ein hoher Rang zu. Wo sonst begegnen Menschen heute der Kirche? – In der Presse, wenn wieder irgendein Skandal ruchbar wird. Seelsorger haben oft kaum die Zeit und Kraft, um sich die Freuden und Anliegen anzuhören, die Menschen ihnen mitteilen möchten. Selbst ehrenamtlich Engagierte finden oft kaum Gelegenheit für ein Gespräch, das über Organisatorisches hinausgeht. Es bleibt für die meisten nur die Liturgie, der Gottesdienst in seinen vielfältigen Formen, in dem den Menschen Gottes Wort begegnet und wo in Gebeten, meist eher allgemein, das angesprochen wird, was sie bewegt und dessentwegen sie daran teilnehmen. Aber können sie da wirklich das tröstende, heilende, Orientierung gebende Wort hören? Erreicht das in ihrem Namen vorgetragene Gebet ihren Verstand und ihr Herz so, dass ihr „Amen" dem Ausdruck gibt, was in ihnen ist?

Ein Ort, wo Behinderung sein darf

Tatsächlich ist der Gottesdienst der fast einzige Ort in unserer Gesellschaft, an dem Unvollkommenheit, Misserfolg, Schwachsein, selbst persönliches Versagen, ja sogar Schuld erlaubt und kein Makel ist und wo all das den, der davon betroffen ist, nicht klein macht – im Gegenteil.

Die ganze Heilige Schrift und insbesondere die Evangelien sind voll von Worten und Geschichten, die Menschen aufrichten, ihnen neues Selbst- und Gottvertrauen, neuen Mut geben können. Ganz und gar kein billiger Trost, eher etwas wie der gütige Blick, aus dem das Mitleiden und die Verbundenheit spricht, die Leid besser ertragen lässt. Die barmherzige Zuwendung, die dem Schwachen seine Würde gibt.

Menschen suchen Zuwendung

Wer einen liturgischen Dienst tut oder einfach nur an der Liturgie teilnimmt, vermittelt seinen Schwestern und Brüdern etwas von der Zuwendung Gottes: schon durch sein Dasein und sein Zeugnis, im Lesen von Gottes Wort, im Sprechen eines Gebetes, in der Homilie, im Händedruck des Friedensgrußes, im Mit-Denken an die in den Fürbitten genannten Menschen, im herzlichen Mitsingen eines Liedes, das Gott preist, ihm dankt, ihn bittet. Wir alle brauchen das. Wir brauchen einander.

Wenn wir uns fragen, bei welchen Gelegenheiten Menschen die Kirche, den Gottesdienst suchen, dann ist es dort, wo sie spüren, dass sie ihr Leben und die Zukunft selbst nicht in der Hand haben: in der Freude und der Ungewissheit um die Zukunft, wenn ein Kind geboren wird oder wenn sie den Schritt wagen zu einer lebenslangen Beziehung; im Leid und in der Not, wenn angesichts von Krankheit und Tod alles sonst Wichtige plötzlich bedeutungslos wird. Und auch bei weniger einschneidenden Gelegenheiten: bei Segnungen von Kindern, von Paaren am Valentinstag, von Jubel-Ehepaaren, von Kranken; bei Erstkommunion und Firmung als Stationen auf dem Weg des Heranwachsens; bei Motorradsegnungen, bei Gottesdiensten für Allein-Lebende oder für Menschen mit zerbrochenen Beziehungen – lauter Anlässen, die mit den Unwägbarkeiten des Lebens, mit menschlicher Unvollkommenheit oder Ohnmacht zu tun haben.

Vielleicht sollten wir noch mutiger sein, auch die dunklen Seiten, das Versagen und die Schuld, offen an- und auszusprechen. In der Verkündigung Jesu und in seinem Umgang mit den Schwachen stand das „Deine Sünden sind dir vergeben" vor dem „Steh auf und geh!" In der Liturgie steht dieses Thema in der Verkündigung wie im Gebet jedenfalls neben dem Lob Gottes an erster Stelle.

Liturgie und Leben durchdringen sich zutiefst, wenn in ihr in den Worten und im Verhalten das geschieht, was vor 2000 Jahren in der Begegnung Jesu mit den Schwachen und Behinderten aller Art geschehen ist. Gottesdienst feiern heißt: so an den Menschen handeln, dass durch unser Handeln Jesus wirken kann. Die Verpflichtung dazu gilt allen, die durch die Taufe dazu berufen sind, für einander Priester zu sein. In der Liturgie wie im Gottesdienst des Lebens.

Eduard Nagel 

Praxis-Tipp

Im Pfarrgemeinderat kann das Thema „Behinderte Menschen in unseren Gottesdiensten" anhand folgender Fragen behandelt werden:

  • Gibt es behinderte Menschen in unserer Gemeinde, die vielleicht an Gottesdiensten teilnehmen möchten, aber dies nicht können oder nicht wagen, weil sie niemandem zur Last fallen wollen?
  • Von welchen Behinderungen sind Menschen in unserer Gemeinde betroffen?
  • Welche Maßnahmen sind notwendig, um Menschen mit einer Behinderung die Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen oder zu erleichtern?
    • Rollstuhlfahrer: Barrierefreiheit
    • Blinde: Begleitung, speziell beim Kommuniongang
    • Hörbehinderte: Induktionsschleife; Gehörlose: Angebot von Texten zum Mitlesen
    • geistig behinderte Menschen: Abholen und Begleitung
    • weitere ...?
    • Auf welche Weise kann Menschen geholfen werden, die unüberwindliche Hemmungen haben, in eine Versammlung zu gehen (z. B. durch Krankenkommunion)?